6. Messprozess

Eigenschaften von Elektronen und der quantenmechanische Messprozess

6.1 Die Eigenschaft „Ort“ im Doppelspaltexperiment – 6.2 Messprozess und Komplementarität – 6.3 Messungen und Eigenschaften 6.4 Zustandsreduktion
6.5 Schrödingers Katze, Messprozess und Dekohärenz – 6.6 Selbstkontrolle – 6.7 Zusammenfassung

In diesem Kapitel stehen weitere „Merkwürdigkeiten“ der Quantenmechanik im Vordergrund. Am Beispiel des Doppelspaltexperiments wird gezeigt, dass man einem Elektron im Allgemeinen die Eigenschaft „Ort“ nicht zuweisen kann.

Weiter wird diskutiert, dass in der Quantenmechanik dem Messprozess eine ganz eigene und wichtige Rolle zukommt. Das Paradoxon von Schrödingers Katze stellt ein weiteres Beispiel für die Merkwürdigkeit der Quantenmechanik dar.

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Das „Alle-Wege-Modell“.

6.1 Die Eigenschaft „Ort“ im Doppelspaltexperiment

Betrachtet man das Verhalten von Elektronen am Doppelspalt, kommt man zu folgendem Ergebnis: Nach der klassischen Vorstellung geht etwa die Hälfte der Elektronen durch Spalt 1 und die andere Hälfte durch Spalt 2. Jedes Teilchen geht aber nach dieser Sichtweise genau durch einen bestimmten Spalt (man weiß nur nicht durch welchen). Mit entsprechendem experimentellen Aufwand wäre es aber möglich, den genauen Durchgangsspalt (= Ort) eines Teilchens genau zu bestimmen. Mit der Detektion seines Auftreffpunkts auf einem Schirm hinter dem Spalt ist so der komplette Weg des Teilchens nachvollziehbar, bei Kenntnis der Ausgangsbedingungen (z. B. dem Impuls) sogar vorhersagbar.

Würde man nun einen Spalt schließen, beeinträchtigte das nicht das Verhalten der Teilchen, die ohnehin durch den anderen Spalt gelangen würden (Abb. 6.1 a). Genau so verhielte es sich umgekehrt (Abb. 6.1. b). Das Gesamtschirmbild, d.h. die Auftreffwahrscheinlichkeit, bliebe davon unberührt: Die Verteilung ergäbe sich schlicht aus der Summierung der Einzelspaltverteilungen: P(x) = P_1(x) + P_2(x), (Abb. 6.1 c). Woher sollten die Teilchen, die durch eine Spalt gingen, auch „wissen“, ob der andere Spalt geschlossen oder offen ist. Das Ergebnis kennen wir bereits aus Kapitel 5.4. So weit die Vorstellung der klassischen Mechanik.

Abb. 6.1: Ortseigenschaft beim Doppelspaltexperiment

Nach der Quantenmechanik ist diese Vorstellung jedoch falsch. Die Doppelspaltverteilung mit Elektronen (allgemein mit Quantenobjekten) zeigt tatsächlich ein Interferenzmuster (P(x) \neq P_1(x) + P_2(x), Abb. 6.1 d), das nicht damit erklärt werden kann, jedes Elektron ginge durch einen bestimmten Spalt, sei also stets lokalisierbar. Vielmehr ist man gezwungen, die Vorstellung von Elektronen als lokalisierte Gebilde insgesamt aufzugeben. Es ist nicht nur so, dass wir den Spalt nicht kennen, durch den ein Elektronen gegangen sein könnte – das würde implizieren, dass Elektronen grundsätzlich ein Spalt, mithin ein Weg (Ort) zugeschrieben werden könnte und wir nur nicht wissen welcher das ist (s.o.) – nein, die Eigenschaft „Ort“ kann einem Elektron nicht zugeschrieben werden. Ein Quantenobjekt besitzt in der Spaltebene die Eigenschaft „Ort“ also nicht. Das ist eine radikale Abweichung von den klassischen Vorstellungen.

Zusammenfassend bedeutet dies:

In der Quantenmechanik ist es möglich, dass einem Quantenobjekt klassisch wohldefinierte Eigenschaften nicht zugeschrieben werden können. Zum Beispiel befindet sich ein Elektron im Doppelspaltexperiment bei seiner „unbeobachteten“ Ausbreitung im Raum zu keiner Zeit an einem bestimmten Ort, d. h. es besitzt die Eigenschaft „Ort“ nicht.

Etwas Analoges fanden wir bereits in Kapitel 3.4: Es wurde gezeigt, dass man einem Photon im Mach-Zehnder-Interferometer die Eigenschaft „Weg“ nicht zuordnen kann, ohne in Widersprüche zu geraten.

6.2 Messprozess und Komplementarität

Im letzten Abschnitt wurde dargelegt, dass man einem Quantenobjekt die Eigenschaft „Ort“ (z. B. beim Doppelspalt) nicht zuschreiben kann.

Im klassischen Sinne paradox erscheint es dagegen, dass man sehr wohl eine Ortsmessung eines Elektrons vornehmen kann und auch zu einem Ergebnis kommt. Zur Erinnerung sei gesagt, dass eine Ortsmessung in der klassischen Physik eine typische Teilcheneigenschaft beschreibt. Demgegenüber ist das Interferenzmuster auf einem Schirm nach Durchgang durch einen Doppelspalt – auch von Elektronen – ein typisches Wellenphänomen.

Ein Simulationsexperiment (Experiment 6.1 lt. Lehrtext) im Doppelspalt-Programm zeigt, wie man eine Ortsmessung realisieren könnte:
Zwischen Schirm und Doppelspalt wird eine Lampe geschaltet, deren Licht durch Streuung an den Elektronen diese registrierbar (Lichtblitz) werden lässt. Siehe Abb. 6.2.1

Abb. 6.2.1

Jedes Elektron findet man bei einer solchen Ortsmessung an einem wohldefinierten Ort, und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter einem der beiden Spalte, hinter welchem lässt sich jedoch im Voraus nicht sagen. So weit so gut, doch bei dieser Versuchsanordnung wird man feststellen, dass sich kein Interferenzmuster mehr erkennen lässt – vielmehr tritt wieder die Summe der beiden Einzelspalt-Verteilungen P_1(x) + P_2(x) auf.

Am Ergebnis von Experiment 6.1 sieht man, dass sich die Quantenmechanik nicht überlisten lässt. Es wird zwar bei der Ortsmessung ein Elektron hinter genau einem der beiden Spalte gefunden, nach Bohr handelt es sich aber nun um ein anderes Experiment. Das äußert sich z. B. darin, dass kein Doppelspalt-Interferenzmuster auftritt. Versuchsanordungen, bei denen Welleneigenschaften (Interferenz) auftreten, sind komplementär zu solchen, bei denen das „teilchenhafte“ Verhalten (Ortsbestimmung) der Quantenobjekte festgehalten wird. Komplementäre Anordungen können nicht durch eine einzige Versuchsanordnung realisiert werden.

Ortseigenschaft und Interferenz sind nicht gleichzeitig realisierbar, sondern schließen sich gegenseitig aus. Dies ist ein Spezialfall eines allgemeinen Prinzips, das man nach Niels Bohr Komplementarität nennt.

Die Komplementarität zwischen Interferenzmuster und Weginformation lässt sich anhand von Experiment 6.2 noch genauer erforschen. Dabei wird die Intensität der Lampe variiert, sodass bei zu schwacher Intensität nicht mehr alle Elektronen nachgewiesen werden können. Die nicht Nachgewiesenen tragen aber ihrerseits wieder zur Entstehung des Interferenzmusters bei. Die anderen, „ge-orteten“ Elektronen verursachen eine strukturlose Verteilung. Der Übergang ist fließend. Ähnliches kennen wir schon von Photonen beim Mach-Zehnder-Interferometer mit Polarisationsfiltern, sowie beim Quanteneraserversuch (Kap. 3.4).

An den Experimenten sieht man, dass unter Umständen schon das Verändern eines kleinen Teils der Versuchsanordung ausreicht, um das Versuchsergebnis qualitativ zu verändern. Dies wird von Bohr als Ganzheitlichkeit der Quantenphänomene bezeichnet.

Das Ergebnis von Experimenten hängt in der Quantenphysik empfindlich von der Versuchsanordnung ab.

Hier können Sie sich ein  Arbeitsblatt herunterladen.

Bohrs Interpretation der Quantenmechanik (die sogenannte Kopenhagener Interpretation) ist sehr komplex. Hier können Sie sich einen Artikel herunterladen, der sich eingehender mit der Bohr´schen Philosophie beschäftigt (erschienen in „Physik in der Schule“ 34 (1996), S.165 – 170).

6.3 Messungen und Eigenschaften

Messung in der klassischen Physik:

Die Messung einer Größe in der klassischen Physik bedeutet einfach die Zurkenntnisnahme ihres vorher bereits wohldefinierten und bekannten Wertes. Zum Beispiel kann man mittels Anlegen eines Maßstabes den Auftreffort eines von einem bestimmten Ausgangspunkt geworfenen Balles problemlos bestimmen. Der Ort des Balles ist dabei selbstverständlich unabhängig davon, ob man überhaupt eine Messung vornimmt oder nicht und bei einer wiederholten Messung fände man den Ball natürlich an derselben Stelle (wenn auch unter der Einschränkung statistischer Messfehler (Streuung)).

Messung in der Quantenmechanik:

Wie wir gesehen haben (Abschnitt 6.1) kann man Quantenobjekten unter Umständen die Eigenschaft Ort (z. B. in der Spaltebene (Kapitel 5.4) oder beim Mach-Zehnder-Interferometer (Kapitel 3.4)) gar nicht zuschreiben (das gilt auch für andere Eigenschaften wie z. B. dem Impuls oder der Energie eines Quantenobjekts) – es besitzt diese Eigenschaft also gar nicht. Was ist das Ergebnis einer Ortsmessung, wenn das Quantenobjekt die Eigenschaft Ort nicht besitzt? Was misst ein Messgerät in diesen Fällen?

Tatsächlich zeigen alle Messungen in realen Experimenten einen eindeutigen Wert der gemessenen Größe! Auch im Simulationsexperiment von Abschnitt 6.2 leuchtet bei der Ortsmessung hinter dem Doppelspalt nur an einer einzigen Stelle ein Lichtblitz auf. Jedes Elektron wird also bei der Messung hinter einem der Spalte gefunden, obwohl es falsch wäre, zu behaupten, dass es schon vorher die Eigenschaft „befindet sich hinter einem der Spalte“ besessen hätte. Von den möglichen Messwerten (Spalt 1 oder Spalt 2) ist bei der Messung also genau einer ausgewählt worden. Führt man das gleiche Experiment mehrere Male hintereinander durch, wird man im Allgmeinen verschiedene Ergebnisse erhalten. Im vorliegenden Beispiel wird man ein Elektron im Mittel genauso häufig hinter Spalt 1 wie hinter Spalt 2 finden, wenn beide Spalte gleichmäßig bestrahlt werden. Es ergibt sich das:

Messpostulat der Quantenmechanik:

Bei jeder Messung an einem Quantenobjekt wird aus dem Spektrum der möglichen Messwerte (hier Spalt 1 oder Spalt 2) ein einzelner realisiert. Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Messwert gefunden wird, lässt sich aus der Wellenfunktion mit der Born´schen Wahrscheinlichkeitsformelermitteln.

P(x) ·\Delta x = |\psi(x)|^2 \cdot \DeltaΔx

 

Das Messpostulat der Quantenmechanik

Heisenberg zum Messprozess

Die Diskussion um das Messpostulat zeigt:
Aus der Tatsache, dass sich bei der Messung eines Ortes ein bestimmter Wert ergeben hat, darf man nicht schließen, dass das Quantenobjekt diese Eigenschaft vorher aufgewiesen hat. So gibt es auch keine „Bahn“ (also eine Abfolge von Orten), auf der sich das Elektron von der Quelle zum Schirm bewegt, sondern nur eine quantenmechanische Wellenfunktion, die sich nach Wellengesetzen ausbreitet. Erst im Messprozess wird eine der beiden Möglichkeiten realisiert.

Das illustriert noch einmal sehr deutlich, dass ein Quantenobjekt eine bestimmte Eigenschaft (wie den Ort) keineswegs besitzen muss. Führt man eine Messung durch, findet man dagegen immer einen Messwert, obwohl das Quantenobjekt diese Eigenschaft vorher nicht aufgewiesen hat.

In der Quantenmechanik besteht ein Unterschied zwischen „eine Eigenschaft haben“ und „eine Eigenschaft messen“.

Zum Beispiel sind die beiden folgenden Aussagen nicht gleichbedeutend: 

a) Bei einer Messung findet man das Elektron am Ort x.

b) Ein Elektron besitzt die Eigenschaft „Ort x“.

Hier zeigt sich die in Kapitel 4 eingeführte Definition des Ensembles als sinnvoll. Messungen an den einzelnen Quantenobjekten eines Ensembles geben eine eindeutige Antwort, ob Quantenobjekten eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben werden kann oder nicht:

1. Die gemessenen Werte streuen, d. h. bei manchen Messungen findet man das Elektron hinter
„Spalt 1“, bei anderen hinter „Spalt 2“. Dann besitzt das Ensemble hinter den Spalten die Eigenschaft „Ort“ nicht.

2. Alle Messungen liefern denselben Ort (innerhalb eines gewissen Intervalls), z. B. „Spalt 1“. Dann besitzt auch das Ensemble die Eigenschaft „Ort“. In diesem (und nur in diesem) Fall kann man auch von jedem einzelnen Mitglied des Ensembles sagen, dass es die betreffende Eigenschaft besitzt.

Dynamische Eigenschaften von Quantenobjekten beziehen sich also (ebenso wie der Begriff der Präparation) immer auf ein ganzes Ensemble.

6.4 Zustandsreduktion

Jede physikalische Messung ist ein Vorgang, bei dem physikalische Messinstrumente mit dem zu beobachtenden Objekt in Wechselwirkung treten (sonst gäbe es keine Informationen über das Objekt). Die Messung selbst beeinflusst dabei auch die zu messende Größe (wie z. B. ein Thermometer die Temperatur einer Flüssigkeit verändert, in die es getaucht wird). In der klassischen Physik sind diese Messwirkungen entweder vernachlässigbar oder können theoretisch ausgeglichen werden.

Messungen in der Quantenphysik stellen einen nicht zu vernachlässigenden Eingriff in den ungestörten Ablauf des Geschehens dar; sie verändern den Zustand des gemessenen Objekts! Ein Beispiel dafür ist das aus Abschnitt 6.2 bekannte Doppelspaltexperiment mit Mess-Lichtquelle. Wenn die Ortsmessung durchgeführt wird – also bei eingeschalteter Mess-Lampe – bildet sich kein Interferenzmuster auf dem Schirm mehr aus. Die Elektronen befinden sich nach der Messung offenbar in einem anderen, nicht-interferenzfähigen Zustand. Die Messung hat den Zustand der Elektronen verändert.  Das ist ein allgemeiner Wesenszug von Messungen in der Quantenmechanik:

Anders als in der klassischen Physik verändert eine quantenmechanische Messung den Zustand des Systems, an dem die Messung vorgenommen wird.

Mit Hilfe der Wellenfunktion lässt sich das Phänomen quantitativ diskutieren:

Die Wellenfunktion \psi(x) = \psi_1(x) + \psi_2(x) beschreibt den Zustand des Systems mit ausgeschalteter Lichtquelle. Es handelt sich um einen Überlagerungszustand aus den beiden Wellenfunktionen \psi_1(x) und \psi_2(x) (Abb. 6.3.1). Die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Elektronen auf dem Schirm, ergibt sich aus |\psi(x)|^2= |\psi_1(x) + \psipsi_2(x)|^2 (vgl. Kapitel 5.3 und 5.4). Man erhält das Interferenzmuster.

Abb. 6.3.1

Durch die Messung – bei eingeschalteter Mess-Lampe findet eine Ortsmessung statt – wird eine der beiden Möglichkeiten ausgewählt; Je nach dem Ergebnis der Ortsmessung befinden sich die Elektronen nach der Messung im Zustand \psi_1(x) oder \psi_2(x) (vgl. Abb. 6.3.2: Hier werden die Elektronen, die man hinter Spalt 1 findet (Lichtblitz = Ortsmessung), durch die Einzelspalt-Wellenfunktion \psi_1(x) beschrieben). Ihr Beitrag zur Elektronenverteilung auf dem Schirm entspricht der Einzelspaltverteilung |\psi_1(x)|^2. Für den Spalt 2 verhält es sich genauso.


Abb.6.3.2

Das Muster, das sich schließlich auf dem Schirm herausbildet, ist die Summe der beiden Einzelspaltverteilungen; es ist durch die Abwesenheit der Interferenzstruktur gekennzeichnet: P(x) = |\psi_1(x)|^2 +\psi_2(x)|^2.
Die Tatsache, dass man bei diesem Versuch kein Interferenzmuster erhält, wird also dadurch erklärt, dass die Elektronen nach der Messung durch eine andere Wellenfunktion beschrieben werden.

Den Übergang von \psi(x) = \psi_1(x) +\psi_2(x) zu einer der beiden Möglichkeiten \psi_1(x) oder \psi_2(x) nennt man Zustandsreduktion oder „Kollaps“ der Wellenfunktion. Die Zustandsreduktion stellt eine abrupte Änderung der Wellenfunktion dar, die charakteristisch für eine Messung ist.

Die Diskussion über die Interpretation der Zustandsreduktion erstreckt sich von den Anfangstagen der Quantenmechanik bis in die Gegenwart. Sie ist eine der am kontroversesten diskutierten Themen in der Quantenmechanik.

Die entsprechenden Wellenfunktionen bzw. Wahrscheinlichkeitsverteilungen vor und nach der Messung sind in folgender Tabelle noch einmal zusammengestellt:

 vor der Messung  nach der Messung
Wellenfunktion:  \psi(x)=\psi_1(x) +\psi_2(x)  \psi(x) =\psi_1(x) oder  \psi(x) =\psi_2(x)
Wahrscheinlichkeit:  P(x) = |\psi_1(x) +\psi_2(x)|^2   P_1(x) = |\psi_1(x)|^2  oder P_2(x) = |\psi_2(x)|^2    

6.5 Schrödingers Katze, Messprozess und Dekohärenz

Bei den Phänomenen der Alltagswelt nimmt man nichts von dem merkwürdigen Quantenverhalten wahr. Es stellt sich die Frage, ob man mit der Quantenmechanik erklären kann, wie dier Welt ihre „klassische“ Erscheinungsform annimmt, wenn man von mikroskopischen zu makroskopischen Systemen übergeht.

„Schrödingers Katze“ ist ein berühmtes Paradoxon der Quantenmechanik, das Auslöser für die Frage ist, ob die Quantenmechanik einen klassischen Grenzfall besitzt, in dem sie die Aussagen der klassischen Physik reproduziert.
Überlagerungszustände, wie sie uns beim Doppelspaltexperiment begegnet sind, treten in der makroskopischen Physik nicht auf. Um dies zu illustrieren, konstruierte Schrödinger sein Katzenparadoxon.

Schrödinger schreibt:

„Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muss): in einem Geiger´schen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, dass im Lauf einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die \psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, dass in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.

Das Typische an diesen Fällen ist, dass eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden lässt. Das hindert uns, ein in so naiver Weise „verwaschenes Modell“ als Abbild der Wirklichkeit gelten lassen.“

Nach Schrödinger hat die Wellenfunktion des Gesamtsystems (Kasten + Katze) nach Ablauf einer Stunde die Form eines Überlagerungszustandeszweier makroskopisch verschiedener Zustände:

\psi(x)=\psi_1(x) +\psi_2(x)

wobei \psi_1(x) den Zustand „Atom zerfallen und Katze tot“ und \psi_2(x) den Zustand „Atom nicht zerfallen und Katze lebt“ beschreibt.
Wie beim Doppelspaltversuch hat die Wellenfunktion \psi die Gestalt eines Überlagerungszustandes. In Analogie zu den Betrachtungen der Ortseigenschaft, besitzt die Katze die Eigenschaften „tot“ oder „lebendig“ demnach nicht.
Es ist Schrödinger an diesem Beispiel gelungen zu zeigen, dass der Übergang von der Quantenmechanik zur klassischen Physik nicht ohne Probleme zu bewältigen ist.

Das quantenmechanische Messproblem

Anstelle der Katze kann man sich ein Messgerät denken, das den Zerfall eines Atoms in der radioaktiven Substanz durch das Aufleuchten einer Lampe anzeigen soll. Auch hier sagt die Quantenmechanik voraus, dass bei einer Messung das Messgerät keinen eindeutigen Wert anzeigt, da sich das System in einem Überlagerungszustand befindet (Lampe leuchtet und zugleich leuchtet nicht). Auch dies steht im Widerspruch zu allen Erfahrungen mit Messgeräten.

Um Übereinstimmung mit dem beobachteten Verhalten von Messgeräten zu erhalten, wurde „von Hand“ der abrupte Prozess der Zustandsreduktion (6.4) eingeführt: Bei einer Messung wird die Wellenfunktion nach Zufallsgesetzen aus dem Überlagerungszustand auf eine der Möglichkeiten („Lampe leuchtet“ / „Lampe leuchtet nicht“) „reduziert“ (vgl. auch Kollaps der Wellenfunktion; Abschnitt 6.4).

Dekohärenz

In den letzten Jahren ist man der Auflösung des Katzenparadoxons näher gekommen. Die Theorie der Dekohärenz erklärt, warum in der makroskopischen Welt keine Überlagerungszustände registriert werden. Die zentrale Idee dabei ist, dass man makroskopische Körper (wie die Katze) nicht isoliert betrachten kann. Sie müssen als mit der Außenwelt wechselwirkende offene Systeme aufgefasst werden. Sie besitzen immer eine natürliche Umgebung, mit der sie auf vielfältige Weise wechselwirken. Die Katze z. B. streut Licht, gibt Wärmestrahlung ab und beeinflusst die Luftmoleküle in der Umgebung. Durch die Wechselwirkung mit ihrer natürlichen Umgebung wird die Katze „effektiv klassisch“. Sie ist tot oderlebendig; Überlagerungen oder Interferenzerscheinung können nicht nachgewiesen werden. Die Wechselwirkung mit der Umgebung zerstört die Interferenzfähigkeit.

Hier können Sie sich einen Artikel herunterladen, in dem die Dekohärenz noch ausführlicher erläutert wird.

Es gibt jedoch auch besondere Fälle, in denen die Isolierung von der Umgebung möglich ist. Dann findet keine Dekohärenz statt und es kommt zu makroskopischen Quantenphänomenen wie Supraleitung, Superfluidität und Bose-Einstein-Kondensation.

6.6 Selbstkontrolle

In diesem Kapitel waren die folgenden Inhalte von Bedeutung:

  • Unter Umständen können klassisch wohldefinierte Eigenschaften (z. B. Ort) einem Quantenobjekt nicht zugeschrieben werden.
  • Der Begriff der Komplementarität und das Prinzip der Ganzheitlichkeit der Quantenphänomene.
  • Messprozess und Messpostulat.
  • Zustandsreduktion.
  • Das Schrödingersche Katzenparadoxon und seine Bedeutung.

Bevor Sie zum nächsten Kapitel weitergehen, vergewissern Sie sich, dass Sie über die Grundzüge dieser Inhalte Bescheid wissen. Anschließend können Sie dies anhand der Zusammenfassung überprüfen.

6.7 Zusammenfassung

Ein zentraler Zug der Quantenmechanik ist, dass klassisch wohldefinierte Eigenschaften (wie z. B. Ort) einem Quantenobjekt unter Umständen nicht zugeschrieben werden können.

Ortseigenschaft und das Interferenzmuster sind nicht gleichzeitig realisierbar, sie schließen sich gegenseitig aus. Dies ist ein Spezialfall eines allgemeineren Prinzips, das man nach Niels Bohr Komplementarität nennt.

Bei jeder Messung einer physikalischen Observablen wird ein bestimmter Wert gefunden (Messpostulat). Damit besteht ein Unterschied zwischen „eine Eigenschaft haben“ und „eine Eigenschaft messen“.

Als Zustandsreduktion wird der Übergang von der Wellenfunktion \psi(x) zu einer der beiden (dem gemessenen Wert entsprechenden) Wellenfunktionen \psi_1(x) oder \psi_2(x) bezeichnet. Die Zustandsreduktion ist eine abrupte Änderung der Wellenfunktion.

Das Paradoxon von Schrödingers Katze betrifft den Übergang von der Quantenmechanik zur makroskopischen Physik. Das Problem liegt in der Existenz von Überlagerungszuständen, die der klassischen Mechanik fremd sind. Die Theorie der Dekohärenz erklärt, warum in der makroskopischen Welt keine Überlagerungen von toten und lebendigen Katzen beobachtet werden.