Ist das Bohr´sche Atommodell noch zeitgemäß?
Es stellt sich die Frage, warum das Bohr´sche Atommodell von 1913 – auch nach dem 100-jährigen Bestehen der Quantenmechanik – noch immer diesen großen Stellenwert in der Schule einnimmt.
Eine didaktisch sehr ergiebige Auseinandersetzung mit den Argumenten für die Behandlung des Bohr´schen Atommodells in der Schule hat G. Sauer geliefert, die wir hier zitieren: „Didaktische Aspekte des Bohrschen Atommodells“ (in: Quantenphysik in der Schule, S.69ff):
* Die Darstellung des Bohrschen Atommodells gibt einen Einblick in einen Abschnitt der Geschichte der Quantenmechanik.
Zu dieser Funktion ist kritisch nur zu bemerken, dass das Planetenmodell aus dem Jahr 1913 als eine recht kurzlebige Vorstufe der Quantentheorie anzusehen ist, deren physikgeschichtliche Bedeutung nicht überschätzt werden sollte. Für eine Darstellung von Physikgeschichte ist eine im wesentlichen verbale Behandlung schon ausreichend. Wird das Wasserstoffatom wie bei BADER (1972) erst auf einem fortgeschrittenem Niveau nach Einführung der elementaren Quantenmechanik betrachtet, kann das Modell durch eine kritische Kommentierung in die spätere Entwicklung der Quantentheorie eingeordnet werden. Unter physikhistorischen Aspekten erscheint es mir kaum sinnvoll, die Weiterentwicklung zum BOHR-SOMMERFELD-Modell mit elliptischen Bahnen im Unterricht zu thematisieren. Für die Geschichte der Physik steht im Unterricht ohnehin weniger Zeit zur Verfügung, als man sich wünscht, so dass man diesen knappen Raum sorgfältig verteilen muss.
* Das Modell der auf bestimmten, erlaubten „Planetenbahnen“ um den Atomkern laufenden Elektronen stellt eine einfache, anschauliche Möglichkeit dar, „eine Fülle von Erfahrungstatsachen zu beschreiben und zu deuten“ (Höfling 1976).
Beschreiben kann das Modell nur die Energieniveaus, und dies in quantitativer Hinsicht auch nur beim Wasserstoffatom. Die Gesetzmäßigkeiten des Wasserstoffspektrums werden damit auf die Energiequantisierung zurückgeführt, und die RYDBERG-Konstante kann berechnet, d. h. durch universelle Naturkonstanten ausgedrückt werden. Von einer Erklärung der beschriebenen Erfahrungstatsachen ist man im Rahmen des Planetenmodells weiter entfernt als etwa KEPLER von der Mechanik NEWTONs. Das Maß an Verständnis der Physik der Atome, welchen das BOHRsche Atommodell den Schülern vermitteln kann, vermag aus sich heraus noch nicht die besondere Rolle zu rechtfertigen, die ihm im Schulunterricht offenbar zugebilligt wird.
Natürlich können Schüler auch aus einer rein phänomenologischen Beschreibung der Atomphysik, ohne grundlegende Theorie, viel lernen. Didaktisch scheint es mir aber wichtig, phänomenologische Beschreibung von einer Modellerklärung oder einer Theorie klar auseinanderzuhalten.
* Die Darstellung des BOHRschen Modells liefert eine Motivation (unter anderen) für die Einführung der Quantenmechanik.
Motivierend kann sich dabei das Defizit hinsichtlich der Begründung der eingeführten Postulate und das unverstandene Nebeneinander von klassischer Physik und Quantenbedingungen auswirken. Die Darstellung sollte dementsprechend den unbefriedigenden Status des Modells kritisch herausstellen.
Eine Darstellung, die das Modell zunächst überstrapaziert und dann schließlich die Grenzen des angeblich so erfolgreichen Modells als Grund für bessere Atommodelle ausgibt, wird die Notwendigkeit zur grundlegenden Revision der klassischen Physik eher verbergen denn klar hervortreten lassen.
Der für den Schüler wohl wesentliche Schritt von der klassischen Mechanik zur Quantenmechanik, nämlich die Aufgabe der Vorstellung von Bewegung auf klassischen Bahnen, lässt sich in der Schule beim Atom nicht überzeugend begründen. Die wesentliche Motivation hierfür wird durch die Diskussion der direkt beobachtbaren Welleneigenschaften der Materie (Beugung, Spaltversuche) geliefert. Die Elektronenbeugungsröhre ist an dieser Stelle das wichigste Experiment in der Schule, um wellenhafte Eigenschaften bei Elektronenstrahlen vorzuführen.
In vielen Vorschlägen werden Versuche aus der Wellenoptik parallel zu analogen Experimenten mit Elektronen betrachtet, wobei die Beobachtungen beim Licht mit der Photonenhypothese interpretiert werden. Als Beispiel sei der optische Biprismaversuch in Analogie zum MÖLLENSTEDT-Experiment mit Elektronen genannt.
* Die BOHRsche Theorie muss in der Schule die quantenmechanische Beschreibung des Atoms ersetzen, weil entweder diese als zu schwierig anzusehen ist oder nicht genügend Zeit zur Verfügung steht.
Sofern die Physik der Atome überhaupt als notwendiger Teil der Schulphysik angesehen werden muss, kann man sich dieser Argumentation nur schwer verschließen, solange man selbst keine für die Mehrheit der Schüler geeignete Quantenmechanik der Atome als Alternative anzubieten hat. Das bedeutet nicht unbedingt, dass auf die zur Quantenmechanik führenden Grundgedanken verzichtet werden muss. Es gibt aber einfachere, didaktisch sehr viel besser geeignete physikalische Systeme, um die Grundkonzepte der Quantenmechanik einzuführen und zu erläutern, als die Behandlung selbst des einfachsten Atoms.
Für die Schulphysik ist es vermutlich schon als wesentlicher Erfolg anzusehen, wenn mit Hilfe einiger Grundgedanken der Quantenmechanik die Stabilität des Atoms und die Energiequantisierung als solche plausibel gemacht werden können. Die Ableitung der Energiebereiche des Wasserstoffatoms ist dabei zumindest kein vorrangiges Ziel.
* Die Behandlung des Bohrschen Atommodells im Physikunterricht kann den Schüler in die Irre führen.
Wenn nämlich die erlaubten Kreis- und Ellipsenbahnen eine wesentliche Rolle in der Darstellung spielen, können sich leicht „anschauliche“ Bilder vom Atom beim Schüler festsetzen, die nach unserem heutigen Erkenntnisstand sicher mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. So werden beispielsweise die Energiequantisierung und die zu den Spektren führenden Strahlungsübergänge üblicherweise in einem Energieniveauschema dargestellt. Die graphische Darstellung von entsprechenden Kreisbahnen oder gar die Darstellung des Übergangs in einem solchen Bild enthält nicht mehr Informationen als das Niveauschema, legt aber überflüssigerweise eine irreführende Vorstellung nahe.
Die Quantenphysik, die ja den Abschied von eingefahrenen Vorstellungen und Denkgewohnheiten verlangt, wird es immer sehr schwer haben, diese Vorstellungen wieder zu verdrängen. Die Möglichkeit, mit Energieniveaus anschauliche Bahnen assoziieren zu können, ist auch didaktisch eine Sackgasse. Muss man nicht davon ausgehen, dass dann von der Atomphysik bei den an der Physik weniger interessierten Schülern nur das Bild von kreisenden Elektronen den Schulunterricht überdauern wird?
Zusammenfassend ziehe ich die Schlussfolgerung, dass die didaktische Leistungsfähigkeit des Bohrschen Atommodells, sofern dieses als Planetenmodell aus dem Jahr 1913 verstanden wird, kaum größer als der wissenschaftliche Wert des Modells einzuschätzen ist. Auf der anderen Seite ist man heute von einer schulgemäßen Elementarisierung noch so weit entfernt, dass das Bedürfnis nach einer „Atomtheorie ohne Quantenmechanik“ verständlich ist. Diese negative Motivation scheint die einzig überzeugende Begründung für alle quasiklassischen Atomtheorien im Unterricht.
Folgende Vor- und Nachteile bei der Behandlung des Bohrschen Atommodells lassen sich zusammenfassen:
Vorteile:
* Leicht nachvollziehbar und vorstellbar für die Schüler.
* Anhand der Postulate von Bohr können die weiteren Entwicklungen des Atomaufbaus erläutert und damit auch die Grenzen des Modells gezeigt werden.
* Die Formel zur Berechnung der Energieniveaus kann anschaulich durch die „Schalen“ begründet werden.
Nachteile:
* Fehlvorstellungen von einem Atom setzen sich beim Schüler fest.
* Es besteht ein Unterschied zwischen Schul- und Universitätsbüchern.
* Das Modell eignet sich nicht, um eine knappe, einfache Übersicht über die Quantenmechanik zu geben (Modell war vor dem Entstehen der Quantenmechanik da).
* Es wird nicht klar, ob und warum ein Atom stabil ist.
* Dieses Modell entspricht nicht dem, welches in der Chemie verwendet wird.
* Zusätzlich kann beim Bohrschen Atommodell bemängelt werden, dass in der Formel für den Drehimpuls L = n · h/2π, mit n = 1,2,3,.. immer ein Wert ungleich Null herauskommt. In diesem Modell dürfte es also keine s-Zustände geben.